„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem andren zu“, lautet eine alte Redensart. Sie taucht schon in der Antike auf, zum Beispiel bei Jesus und verschiedenen anderen klugen Köpfen. Ist ja auch sehr einsichtig: Wenn dir jemand vor das Schienbein tritt, dann zwiebelt das ziemlich. Keiner lässt sich deswegen gerne treten. Und es braucht auch nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass auch andere nicht gerne getreten werden. Was liegt also näher, als ein Verbot zu erlassen, das es untersagt, anderen Leuten einen saftigen Tritt zu verpassen? Große Teile unserer modernen Gesetzgebung funktionieren nach diesem Prinzip: Füge deinen Mitmenschen kein Leid zu, denn schließlich hast du selbst das auch nicht gerne. Keiner ist gerne das Opfer.
Was aber, wenn Dinge verboten werden, bei denen es streng genommen gar kein Opfer gibt? Schon vor guten 150 Jahren hat der englische Philosoph John Stuart Mill gegen solche Verbote protestiert. In seiner Schrift „Über die Freiheit“ setzt er sich dafür ein, gesetzliche Verbote auf ein Minimum zu reduzieren. Nach Mills Ansicht darf der Staat nur deswegen Gesetze erlassen, um die Bürger zu schützen – alles Andere wäre Willkür. Wenn Mill Recht hat, dann werden plötzlich einige Verbote unnötig: nämlich all diejenigen, die Handlungen verbieten, die gar niemandem schaden. Solche Vergehen können als „Verbrechen ohne Opfer“ (victimless crimes) bezeichnet werden. Zu ihnen gehört zum Beispiel der öffentliche Konsum von Alkohol oder anderer Rauschmittel, Homosexualität oder Prostitution. Viele dieser Handlungen sind oder waren in weiten Teilen der Welt verboten. Und das, obwohl Menschen sie häufig freiwillig ausüben und damit niemandem schaden. Es gibt also – laut Mill – keinen vernünftigen Grund, diese Dinge zu verbieten. Es sei denn, der Staat wollte sich anmaßen, die Bürger vor sich selbst schützen zu müssen. Doch diese Idee findet Mill überheblich. So weit, so gut.
Mills Überlegungen sind ja im Prinzip ganz schlüssig. Kniffelig wird es vor allem dann, wenn man seine Gedanken noch weiter verlängert. So hat vor einigen Jahrzehnten der Philosoph Peter Singer in seinem Buch über die „Praktische Ethik“ erklärt, auch bei der Abtreibung handle es sich um so ein „Verbrechen ohne Opfer“. Denn schließlich käme bei einer Abtreibung niemand zu Schaden. Nur, zugegebenermaßen, der Embryo halt. Aber nach Singers Meinung ist der Embryo keine Person, weil er kein Selbstbewusstsein besitzt, d.h. keine Vorstellung von der eigenen Existenz. Dieses Argument reicht für Singer aus, um zu bestreiten, dass das Verbot der Abtreibung zu Recht besteht. Oder schnörkelloser ausgedrückt: Abtreibung sollte seiner Ansicht nach erlaubt werden.
Natürlich hat es aber auch einen konkreten Grund, dass ich mich in diesem Blog über „Verbrechen ohne Opfer“ auslasse. - Denn auch im Punk Rock spielt das Thema eine Rolle. Die Skatepunk-Helden von NoFX zitieren schon auf ihrer Debut-LP Peter Singer. Später greifen sie auf ihrer bierdeckelförmigen Platte „Coaster“ (Fat Wreck 2009) den Begriff des „opferlosen Verbrechens“ auf. Und zwar betrachten Fat Mike und seine Mannen die Blasphemie als eine solche Handlung. Der Seitenhieb gegen alle Gläubigen ist nicht zu übersehen: Denn wenn Blasphemie, also die Gotteslästerung, ein Verbrechen ohne Opfer ist, dann heißt das: NoFX verneinen die Existenz Gottes. Wenn es Gott nicht gibt, dann kann man ihn auch nicht beleidigen. Klingt irgendwie logisch. Dummerweise ist das mit der Existenz Gottes aber dann doch nicht so ganz sicher. Manche glauben an Gott, andere nicht. Bewiesen oder widerlegt hat ihn bislang keiner. Daher legen NoFX mit ihrem Song „Blasphemy“ zwar ein steiles Statement vor – aber ob sie damit Recht haben, muss offen bleiben.
Wer sich also auf das Thema einlässt, wird bald merken, dass es mit den Verbrechen und den Opfern gar nicht so einfach ist. Die krassen Thesen von Peter Singer und NoFX sind offenkundig hinterfragbar. Sie könnten richtig sein, sie könnten aber auch falsch sein. Es reicht eben nicht aus, bestimmte Handlungen pauschal zu erlauben oder zu verbieten. Vielmehr ist es nötig, darüber nachzudenken, was richtig und was falsch ist. Wer verantwortungsvoll handeln will, kommt nicht darum herum, das eigene Hirn zu benutzen.
Angesichts dessen finde ich es ganz aufschlussreich, wie Jesus in einer berühmten Episode des Lukasevangeliums (Kapitel 10) einmal mit einem schlauen Mann umgeht. Dieser Mann will von Jesus wissen, wie er sich verhalten soll, um ein gutes Leben zu führen. Aber Jesus weigert sich, ihm einfach bestimmte Gebote oder Verbote aufzuzählen. Stattdessen regt Jesus den Mann dazu an, sich eigene Gedanken zu machen, so dass der Schlaubi sich am Ende selbst die entscheidende Antwort gibt. Jesu trockener Kommentar dazu hat bis heute nichts von seiner Dringlichkeit verloren: „Geh, und mach du es ebenso.“
Dienstag, 14. Juni 2011
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