Was ist eigentlich Religion? Das zu
entscheiden, ist ja reichlich kompliziert geworden. Schließlich
leben wir in einer Zeit, in der man so ziemlich alles glauben kann
und darf. In einem sehr weit gefassten Sinn könnte man vielleicht
sagen: „Religion ist der Glaube an 'etwas Höheres' und bestimmt
Leben der Glaubenden.“ Wieso philosophiere ich über solches
abstrakte Zeugs herum? Na klar – weil sich auf meinem Plattenteller
im Moment die neue Scheibe von Bad Religion dreht.
Auf die Jungs um Greg Graffin ist
wenigstens noch Verlass. Musikalisch ist das Album ein Hammer. Das
war nicht anders zu erwarten, denn Bad Religion folgen ganz
konsequent dem altbewährten Rezept mit Hardcore-Gitarren und extrem
melodiösen Gesangsharmonien. Nachdem sie in ihrer Jugend mal mit
einem neuen Sound experimentiert haben und von den Fans abgewatscht
wurden, weicht die Band nicht mehr allzu sehr vom gehabten Schema ab.
Hier und da sind sie vielleicht etwas langsamer geworden als auf den
älteren Releases. Doch das sehe ich ihnen gerne nach. Keiner von uns
wird jünger, und das darf man ja auch hören.
Auch inhaltlich kommt mir vieles
vertraut vor. Die Kritik an der traditionellen Kirche bestimmt einige
der Songs zumindest am Rande. Dieser kirchenkritischen Einstellung
verdankt die Band schließlich ihren Namen. Da würde es wohl
schlecht passen, wenn man plötzlich über Liebe, Saufen oder Nonsens
sänge wie manch andere Band mit ähnlichem Sound. Während Bad
Religion sich vor einigen Jahren noch damit begnügten,
herauszukrakelen, dass der von der Kirche angebotene Lebenssinn ihnen
nicht schmeckt, ist die neue Platte stark von einer eigenen und
aktiven Suche nach Sinn geprägt. Daher auch der Titel des Albums:
„True North“. Der wahre Nordpol hat Generationen von Reisenden
Orientierung auf ihrem Weg ermöglicht. Und sogar moderne
Navigationssysteme orientieren sich auf den Norden hin. So einen
wahren Nordpol, einen Fixpunkt der Orientierung wünschen sich
Graffin und Konsorten nun für ihren Lebensweg.
Der Typ auf dem Album-Cover schaut zwar
etwas bedröppelt aus der Wäsche. Aber der überdimensionale
Zeigefinger macht ihm unmissverständlich deutlich, welche Antwort
die Band ihm auf seine Frage nach Sinn gibt: Du selbst bist es! Du
bist gefragt: Du musst dich entscheiden. Du hast dein Leben in der
Hand. Du kannst deinen Verstand gebrauchen und nach Sinn suchen.
Bleibt dran! Der Weg ist das Ziel. Wohin soll die Reise gehen? - Du
entscheidest.
Ich finde, das nimmt so langsam
quasi-religiöse Züge an. Denn Graffin und seine Jungs arbeiten sich
ja vor allem deshalb so unermüdlich am Thema „Religion“ ab, weil
sie meinen, dass das wichtig ist. Nicht nur für sie selbst, sondern
auch für die anderen: für die Fans, die Gesellschaft, das
„christliche Abendland“. Graffins Antwortvorschlag erhebt den
Anspruch, tragfähig zu sein. Er beansprucht Gültigkeit. Wenn alle
sich besinnen würden, sich eigenständig nach Sinn ausstrecken
würden, anstatt sich Wahrheit und Orientierung von den
traditionellen Autoritäten vorgeben zu lassen, dann wäre unsere
Welt eine bessere Welt. Die Absage an den traditionellen Sinn des
Lebens, an die traditionelle Orientierung wird so selbst wiederum zur
Orientierung. Weil es keinen vorgeschriebenen Sinn gibt, ist die
aktive Suche umso dringender erforderlich. Die Suche nach dem „True
North“ wird so selbst zu etwas „Höherem“: zu einer
Orientierung, die dem Leben Sinn vermittelt. So gesehen fällt das,
was Bad Religion auf der neuen Platte vorantreiben, auch unter eine
weite Definition von Religion. Ich will ihnen natürlich nicht
unterstellen, sie würden jetzt demnächst eine Kirche gründen und
Greg Graffin zu ihrem Papst ernennen. Aber eines ist doch
überdeutlich: Mit ihrem Streben nach Sinn gibt die Band ihrem
Publikum Orientierung. Ist das jetzt good oder bad? Weiß nicht so
genau. Eher gut, denke ich.
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