Dienstag, 5. Februar 2013

Wohin?

Was ist eigentlich Religion? Das zu entscheiden, ist ja reichlich kompliziert geworden. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der man so ziemlich alles glauben kann und darf. In einem sehr weit gefassten Sinn könnte man vielleicht sagen: „Religion ist der Glaube an 'etwas Höheres' und bestimmt Leben der Glaubenden.“ Wieso philosophiere ich über solches abstrakte Zeugs herum? Na klar – weil sich auf meinem Plattenteller im Moment die neue Scheibe von Bad Religion dreht.

Auf die Jungs um Greg Graffin ist wenigstens noch Verlass. Musikalisch ist das Album ein Hammer. Das war nicht anders zu erwarten, denn Bad Religion folgen ganz konsequent dem altbewährten Rezept mit Hardcore-Gitarren und extrem melodiösen Gesangsharmonien. Nachdem sie in ihrer Jugend mal mit einem neuen Sound experimentiert haben und von den Fans abgewatscht wurden, weicht die Band nicht mehr allzu sehr vom gehabten Schema ab. Hier und da sind sie vielleicht etwas langsamer geworden als auf den älteren Releases. Doch das sehe ich ihnen gerne nach. Keiner von uns wird jünger, und das darf man ja auch hören.

Auch inhaltlich kommt mir vieles vertraut vor. Die Kritik an der traditionellen Kirche bestimmt einige der Songs zumindest am Rande. Dieser kirchenkritischen Einstellung verdankt die Band schließlich ihren Namen. Da würde es wohl schlecht passen, wenn man plötzlich über Liebe, Saufen oder Nonsens sänge wie manch andere Band mit ähnlichem Sound. Während Bad Religion sich vor einigen Jahren noch damit begnügten, herauszukrakelen, dass der von der Kirche angebotene Lebenssinn ihnen nicht schmeckt, ist die neue Platte stark von einer eigenen und aktiven Suche nach Sinn geprägt. Daher auch der Titel des Albums: „True North“. Der wahre Nordpol hat Generationen von Reisenden Orientierung auf ihrem Weg ermöglicht. Und sogar moderne Navigationssysteme orientieren sich auf den Norden hin. So einen wahren Nordpol, einen Fixpunkt der Orientierung wünschen sich Graffin und Konsorten nun für ihren Lebensweg.

Der Typ auf dem Album-Cover schaut zwar etwas bedröppelt aus der Wäsche. Aber der überdimensionale Zeigefinger macht ihm unmissverständlich deutlich, welche Antwort die Band ihm auf seine Frage nach Sinn gibt: Du selbst bist es! Du bist gefragt: Du musst dich entscheiden. Du hast dein Leben in der Hand. Du kannst deinen Verstand gebrauchen und nach Sinn suchen. Bleibt dran! Der Weg ist das Ziel. Wohin soll die Reise gehen? - Du entscheidest.

Ich finde, das nimmt so langsam quasi-religiöse Züge an. Denn Graffin und seine Jungs arbeiten sich ja vor allem deshalb so unermüdlich am Thema „Religion“ ab, weil sie meinen, dass das wichtig ist. Nicht nur für sie selbst, sondern auch für die anderen: für die Fans, die Gesellschaft, das „christliche Abendland“. Graffins Antwortvorschlag erhebt den Anspruch, tragfähig zu sein. Er beansprucht Gültigkeit. Wenn alle sich besinnen würden, sich eigenständig nach Sinn ausstrecken würden, anstatt sich Wahrheit und Orientierung von den traditionellen Autoritäten vorgeben zu lassen, dann wäre unsere Welt eine bessere Welt. Die Absage an den traditionellen Sinn des Lebens, an die traditionelle Orientierung wird so selbst wiederum zur Orientierung. Weil es keinen vorgeschriebenen Sinn gibt, ist die aktive Suche umso dringender erforderlich. Die Suche nach dem „True North“ wird so selbst zu etwas „Höherem“: zu einer Orientierung, die dem Leben Sinn vermittelt. So gesehen fällt das, was Bad Religion auf der neuen Platte vorantreiben, auch unter eine weite Definition von Religion. Ich will ihnen natürlich nicht unterstellen, sie würden jetzt demnächst eine Kirche gründen und Greg Graffin zu ihrem Papst ernennen. Aber eines ist doch überdeutlich: Mit ihrem Streben nach Sinn gibt die Band ihrem Publikum Orientierung. Ist das jetzt good oder bad? Weiß nicht so genau. Eher gut, denke ich.

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