Freitag, 5. November 2010

Jesus in Berlin

Gott ist allgegenwärtig, also überall anwesend – so lautet ein wichtiger Lehrsatz der christlichen Theologie. Aber wenn ich mich so umschaue, dann gilt das mit der Allgegenwart wohl nicht nur für Gott sondern auch für Jesus. Auf Schritt und Tritt verfolgt der Typ mich: Viele tragen den Gekreuzigten an einer Kette um den Hals. Regelmäßig lächeln mich Jesus-Konterfeis von den Titelseiten von Zeitschriften an, die mir erklären wollen, wie Jesus wirklich war. Kirchengebäude sind oft regelrecht überfrachtet mit Jesus-Darstellungen. Und im Radio dudelt mal wieder Green Day's „Jesus of Suburbia“.

Letztens ist mir Jesus dann auch noch in Berlin über den Weg gelaufen. Und zwar in Form eines Kunstwerks von dem Sprayer Pisa73. Die Stencil-Graffiti von Pisa73 haben es inzwischen von der Straße bis in die Gallerien geschafft. Eines dieser Werke zeigt den gekreuzigten Jesus und neben ihm eine junge Frau. Diese junge Frau wirkt mit ihrem Minirock, dem engen Tank-Top und dem lasziven Blick einigermaßen nuttig. Klar weiß ich, dass es politisch völlig unkorrekt ist, einfach von diesen Äußerlichkeiten her über die Person zu urteilen. Aber was soll ich machen? Wir haben es hier schließlich mit einem Bild zu tun und können die Tussi darum nicht zu ihrem Lebenswandel interviewen. Dass Jesus sich mit einer Frau befasst, die ein unstetes Sexualleben führt, ist ja ein alter Hut. Davon erzählt schon diese bekannte Episode aus dem Johannesevangelium. Was das Kunstwerk von Pisa73 aber so spektakulär macht, sind die Details. Denn es ist hier zwar ein Heiligenschein zu sehen, doch den trägt nicht Jesus sondern die Dame mit den High Heels. Jesus hat dafür ein besonderes Kreuz. Dieses besteht nicht aus irgendwelchen Holzbalken sondern aus Gewehrkolben.

Jesus, wie er hier dargestellt wird, ist gewissermaßen der Schutzpatron der Kriegsindustrie oder der Kriegsführung überhaupt. Krieg allerdings bringt immer noch unsagbares Leid über die Menschheit. Die vielen Kreuze, die im Hintergrund auf dem Bild zu sehen sind, deuten dies an. Gegenüber den Kriegen in der Welt erscheint die kleine Schlampe neben Jesus wirklich ganz und gar unschuldig. Diese Sichtweise stellt aber das auf den Kopf, was viele christliche Kirchen noch heute lauthals verkünden: Kriege werden von den Kirchen häufig noch immer akzeptiert oder sogar befürwortet; wechselnde Sexualkontakte dagegen werden verteufelt. Im Licht des Werks von Pisa73 kommt mir diese kirchliche Linie vollkommen hirnverbrannt vor. Wer beim Sex gut aufpasst, kommt nicht zu Schaden und hat im Idealfall sogar noch Spaß dabei. Vom Krieg lässt sich das Gleiche wohl kaum behaupten. Krieg kostet Menschenleben. Deswegen regt mich dieses Kunstwerk dazu an, meine Prioritäten zu überdenken: Bevor ich Sex verurteile und beim Krieg ein Auge zudrücke, will ich doch wohl lieber umgekehrt gegenüber kriegerischen Handlungen sehr kritisch sein und dafür vielleicht nicht so schnell Menschen wegen ihres Sexuallebens abstempeln.

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